Aus Anlass seines 400. Todestages wurde Caravaggio in diesem Jahr nicht nur mit zahlreichen Ausstellungen geehrt – es sind auch diverse Publikationen aufgelegt worden, die Leben und Werk neu zu beleuchten und das eine oder andere Geheimnis aufzuklären suchen.
Lorenz Enderlein
Ein Maler, der verzweifelt den Strand zwischen Palò und Porto Ercole entlangwandert, um ein Boot mit dreien seiner Bilder zu verfolgen; ein Sterbender vor den schäbigen Wänden seines letzten Aufenthaltes – immer wieder hat das Ende von Caravaggios unstetem Wanderleben am 18. Juli 1610 die Phantasie der Biografen beflügelt. Bild geworden ist es in den Halluzinationen auf dem Totenbett, von dem aus Derek Jarmans Film «Caravaggio» das Leben des Künstlers in hochstilisierten Tableaus Revue passieren lässt.
Gerüchte von Verfolgung und Vergiftung umhüllen den Tod des aus dem süditalienischen Exil zurückgekehrten Caravaggio mit der Aura des Geheimnisses – völlig gelöst ist es bis heute nicht. Und es ist wohl auch dieses Geheimnis, um dessentwillen man jüngst den publikumswirksamen Transport einer Anzahl menschlicher Gebeine aus dem kleinen Ferienort am Meer in die römische Hauptstadt veranlasst hat. Eine gentechnische Untersuchung soll letzte Gewissheit geben über das Ableben Caravaggios: Übrig bleiben Reliquien in einem medialen Kultgeschehen, das in diesem Jahr – 400 Jahre nach seinem Tod – um den Künstler inszeniert wird.
Sehen und Staunen
Caravaggios Anziehungskraft ist seit Jahren ungebrochen, Ausstellungen seiner Bilder sind eine regelmässig wiederkehrende Konstante im Kulturbetrieb, in denen auch die Gegenwärtigkeit seiner Kunst abgerufen wird, so in der Konfrontation mit dem englischen Maler Francis Bacon im vergangenen Jahr in der römischen Villa Borghese. Caravaggio bleibt ein Publikumsmagnet. In dichten Trauben umlagerten die Besucher die wenigen imposant inszenierten Werke des Meisters in den Scuderie des Quirinals, der gerade zu Ende gegangenen Caravaggio-Schau.
Ungebrochen ist auch die Faszination der Kunstgeschichte durch das in seinen Grenzen so schwer zu sichernde Œuvre, das schon zu Lebzeiten des Künstlers Gegenstand eifrigen Kopierens und Nachahmens gewesen ist.
Philipp Sohm von der University of Toronto hat jüngst in einer Statistik nachgewiesen, dass die kunsthistorische Textproduktion zu Caravaggio etwa die zu Michelangelo, der noch vor 20 Jahren die Rangliste der Lieblingskinder der Kunstgeschichte anführte, weit überrundet hat. Eine Tatsache, die wohl nicht allein auf seine Reputation als Peintre maudit zurückzuführen ist, sondern vor allem auch Ergebnis des Iconic Turn der letzten Jahre sein dürfte. So wird es kaum ein Zufall sein, wenn noch David Summers seine prominente Michelangelo-Monografie von 1980 unter dem Titel «Michelangelo and the Language of Arts» herausgab, Sybille Ebert-Schifferer aber ihren im letzten Jahr erschienenen Caravaggio-Band unter das Motto «Sehen – Staunen – Glauben» stellte.
Stefania Macioces monumentale Quellensammlung zu Leben und Werk von 2003 (zweite, erweiterte Auflage 2010) hat neben den bekannten Dokumenten auch die bis zu diesem Zeitpunkt erschienenen 3000 Literaturtitel zum Künstler zusammengestellt. Ein Umstand, der keinerlei abschreckende Wirkung zu besitzen scheint, in den letzten Jahren sind mehrere hundert hinzugekommen, darunter zahlreiche neue Gesamtdarstellungen, weitere, etwa von Rudolf Preimesberger und Klaus Krüger, sind angekündigt.
Strenge Auswahl
Obwohl die deutschsprachige Kunstgeschichte in Herwarth Röttgen einen ausgewiesenen Caravaggio-Spezialisten besitzt, fehlten grössere Monografien auf dem deutschen Buchmarkt bisher weitgehend. Dies hat sich im Caravaggio-Jahr grundlegend verändert. Drei Buchpublikationen sollen hier vorgestellt werden.
Sybille Ebert-Schifferers Bildband zu Leben und Werk des Künstlers ist sehr elegant ausgestattet. Eins der Hauptanliegen ihres Buches ist es erklärtermassen, Werk und Person des Malers von den zahllosen Legendenbildungen zu befreien, die ihn schon zu Lebzeiten umgaben und den grossen englischen Kunstkritiker Roger Fry noch 1905 zu der Bemerkung veranlassten, Caravaggio sei der erste «Moderne». Die Autorin filtert überlieferte Arbeiten und Nachrichten durch eine selbstauferlegte Restriktivität, die sich von unsicheren Zuschreibungen fernhält und die überlieferten Nachrichten zu Caravaggio streng zu kontextualisieren versucht.
Auffällig ist dabei der betont unspektakuläre Blick auf das skandalumwitterte Leben des Malers. Das Anliegen, biografische Phänomene zu historisieren und, vor allem im Blick auf Caravaggios Bilder, zu relativieren, prägt allerdings nicht nur die vorliegende Monografie, sondern die gesamte seriöse Caravaggio-Literatur dieser Jahre. Die Tendenz, Caravaggio als intellektuellen Künstler, als Pictor doctus, wahrzunehmen, zeichnet sich spätestens seit den 1950er Jahren ab. Das Bild des von einer nächtlichen Polizeipatrouille mit Schwert und Zirkel aufgegriffenen Künstlers ist emblematisch geworden für eine Persönlichkeit zwischen Kunst und Gewalt.
Die Autorin zeichnet den in vieler Hinsicht konventionellen Ausbildungsweg des Michelangelo Merisi aus dem lombardischen Städtchen Caravaggio nach und rekonstruiert den Aufstieg in das Milieu der römischen Kurie und den damit verbundenen Aufbau eines Systems von Verbindungen, das Aufträge und Absatz seiner Bilder garantierte. Gerade die eigentlich monografischen Kapitel des Buches dürfen als gelungene Realisierung eines modernen Typus der Künstlermonografie gelten. Von den ersten Seiten an ist der Leser in ein geschickt aufgebautes Netz von Informationen eingebunden, aus dem Bildherstellung und Deutung in einem Wechselspiel historischer Daten, kunsttheoretischer Diskurse und künstlerischer Praxis aufscheinen. Die Bestellung und Produktion der Bilder wie die aufgeregten Diskussionen der Zeitgenossen über sie entfalten sich vor einem lebendig rekonstruierten Bild der römischen Metropole in den Jahren vor und nach 1600.
Die spektakulären Bilderfindungen, mit denen Caravaggio die Vorstellungen vom religiösen Altar- und Historienbild in dieser Zeit revolutionierte, werden als Teil seiner Marketingstrategie interpretiert. Unter die Idee einer gezielten Imageproduktion und -vermarktung werden auch die Verhaltensformen des Malers subsumiert. Das oft beobachtete Rowdytum, die nächtlichen Händel, die wiederholten Gefängnisaufenthalte werden als Begleiterscheinungen des Aufstiegs in die Kreise des römischen Adels festgemacht.
Marketingstrategien
Eine solche Annahme wirkt angesichts von Caravaggios kometenhaftem Aufstieg und Fall natürlich verführerisch, obwohl sie ihre Verflechtung in das PR-Zeitalter ebenso offenbart wie Frys die in das Zeitalter der Avantgarden. Man hat bei der Lektüre der Quellen doch allerdings unwillkürlich den Eindruck, dass Caravaggio die Situation seines Nachtlebens bis zum Mord an Ranuccio Tomassoni 1606 immer weiter entglitten ist.
Gleichsam in Form einer Postille ist auch das Unbehagen der gegenwärtigen Forschung angesichts der Vorstellung von Caravaggios Homosexualität artikuliert, die noch für Herwarth Röttgen in Bildern wie dem Berliner Amor deutlich rekonstruierbar war und die den Film Derek Jarmans in programmatischer Weise geprägt hat. Die kargen Äusserungen der Zeitgenossen zu Lustknaben des Malers oder bei ihm schlafenden Lehrlingen stehen denen von seiner aktiven Verflechtung ins heterosexuelle Prostituiertenmilieu gegenüber. Die Bemerkung, dass Homosexualität eher als spontane Normabweichung denn als Identität gelebt wurde, mag grundsätzlich zutreffen. Die Deutungsarbeit hinsichtlich der Integration auch eines homoerotischen Themenspektrums in den amourösen Diskurs der frühen Neuzeit, das sich, auch angesichts der Platon-Rezeption unter den Mitgliedern der römischen Kurie um 1600, im Angesicht von Caravaggios Bildern mitunter aufdrängt, dürfte jedoch noch zu leisten sein.
Brillante Reproduktionen
In der Reihe seiner grossformatigen Künstlermonografien hat der Taschen-Verlag nun auch einen Caravaggio auf den Markt gebracht. In das durchschnittliche Regalfach passt Sebastian Schützes «Caravaggio. Das vollständige Werk» kaum, nicht umsonst hat der Verlag passende Tische für diese Art Publikationen entwickeln lassen. So liegt das Buch, gewollt oder ungewollt, immer griffbereit, was einer regelmässigen Betrachtung der brillanten Gemäldereproduktionen zugutekommt. Zahlreiche überlebensgrosse Detailaufnahmen laden zu überraschenden Entdeckungen ein. Im Text war vom Autor ein Balanceakt gefordert, einerseits ein breiteres Publikum zu bedienen – der Bildband erschien in hoher Auflage zeitgleich in Englisch, Französisch und Italienisch – und andererseits die Caravaggio-Forschung wenigstens andeutungsweise zu ihrem Recht kommen zu lassen. Der dabei entstandene Kompromiss prägt das Gesamtkonzept des Bandes. Der Lebensweg und die Hauptwerke Caravaggios sind in einem fünfteiligen Essay untergebracht, der sich streng an die wichtigsten biografischen Stationen des Malers hält: Die Jugend und die Ausbildung in der Lombardei, die Entwicklung zur künstlerischen Autonomie in Rom, die grossen Aufträge für religiöse Werke, die letzten Jahre in Süditalien, die Ausstrahlung. Die einzelnen Bilder sind im Kontext ihrer Auftragssituation besprochen. Das Buch zeichnet sich durch einen ausführlichen Katalogteil relativ gesicherter Arbeiten Caravaggios aus – hier ist Schütze übrigens weniger restriktiv als Ebert-Schifferers Monografie –, denen eine Zahl unsicherer Zuschreibungen folgen. Die Informationen sind in diesen Katalogeinträgen erneut zusammengefasst und auf diese Art mühelos greifbar. Die betont sachlichen Beschreibungen, der Hang zur klaren Aussage, die bei der Bildlektüre mitunter dezidiert, aber gleichsam unterschwellig in der gegenwärtigen Forschungsdiskussion Position bezieht, haben es allerdings manchmal etwas schwer, auch verbal die Faszination zu vermitteln, die Caravaggios Bilder noch heute auf den Wissenschafter wie das «Laienpublikum» ausüben.
Bildwissenschaftliche Diskurse
Im Gegensatz dazu hat die ebenfalls Ende vergangenen Jahres beim Akademie-Verlag in Berlin erschienene Habilitationsschrift von Valeska von Rosen gerade die Uneindeutigkeit einer Vielzahl von Caravaggios Bildern ins Visier genommen, die noch heute offene Diskussionen über ihren eigentlichen Darstellungsinhalt ausgelöst hat. Der Titel «Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600» verrät seine Anbindung an aktuelle bildwissenschaftliche Diskurse und nähert sich dem Künstler in einer Reihe von Problemstudien, die teilweise bereits zuvor als gesonderte Texte erschienen waren. In allen Analysen geht es darum, die Caravaggios Bildern zugrundeliegenden Gestaltungsprinzipien an die zeitgenössische Kunstpraxis zurückzubinden, ohne dabei immer auf schriftliche Äusserungen der Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts zurückgreifen zu können. Die «Grenzen des Darstellbaren» betreffen den spannungsvollen Umgang des Malers mit den bildnerischen Normen seiner Zeit, den sich in dieser Zeit herausbildenden Bildgattungen ebenso wie dem gegenreformatorischen Diskurs um die Möglichkeiten und Aufgaben des religiösen Bildes überhaupt.
Der erste Teil des Buches umkreist ein Phänomen in Caravaggios Arbeiten, das die Autorin mit der Performativität seiner Bilder zu charakterisieren versucht. Der aus der Sprachphilosophie stammende Begriff des «Performativen» ist ursprünglich in die Caravaggio-Forschung eingeführt worden, um die vielfach zu beobachtende Referenz auf die Malsituation, das Modellsitzen, also den Verweis auf die Produktion des Bildes, zu beschreiben. Das Konzept ist bei von Rosen deutlich ausgeweitet, betrifft die Kennzeichnung der Situation im Atelier, die Kenntlichmachung der Bildakteure als Rollenträger, aber auch andere grundsätzliche Aspekte des Theatralischen in Caravaggios Bildern, wie Beleuchtungseffekte oder die Nähe zu theatertechnischen Erfindungen der Epoche. Für alle diese Eigenheiten ergibt sich ein für die Bilder typisches Spannungsverhältnis zwischen Nähe einerseits, die aus den Close-ups der Ausschnitte und der mimetischen Qualität der Oberflächen resultiert, und Distanzierung andererseits – den Verweisen auf die Künstlichkeit der Bilder, auf die Ateliersituation oder den zitathaften Umgang Caravaggios mit Bilderfindungen seiner Kollegen.
Es sei hier allerdings Zweifel angemeldet, ob die Rollen- und Maskenspiele der Bildakteure und der Bilder selbst, die Valeska von Rosen selbst so treffend beschreibt, mit dem Begriff der Performativität sinnvoll erfasst sind. Auf vorgängige Handlungen oder Situationen verweisen Historien- oder Genrebilder doch allemal, und der explizite Verweis auf das gestellte Tableau im Bild dient dem Maler ja eigentlich vor allem dazu, in die Betrachtung des Bildes eine weitere Reflexionsebene einzuschieben.
Gezielte Ambiguität
Als zentrales Kriterium von Caravaggios Bildern fixiert die Autorin zudem die gezielte Ambiguität seiner Bildaussagen, die kunsttheoretisch mit dem antiken Konzept der gewollten Dunkelheit oder «obscuritas» des Sinns in Verbindung gebracht werden kann und ihrerseits auf höhere Wahrheiten verweisen sollte. Der spielerische Umgang mit Bildattributen, der Unklarheit eigentlich bedeutungsstiftender Gesten, der verfremdende Umgang mit künstlerischen Vorbildern, das Ausschöpfen der Ambivalenzen der frühneuzeitlichen Affekttheorie öffnen die Bilder einer diskursiven Form der Deutung, die sich von den Forderungen nach inhaltlicher Klarheit an das neue religiöse Bild um 1600 absetzte.
Nun gehören Verunklärungen, Verschleierungen und Verrätselungen zu den konstitutiven Bildstrategien vor allem im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, und Caravaggios künstlerische Herkunft aus dem Milieu der profanen Malerei des 16. Jahrhunderts prädestiniert ihn für die Rezeption derartiger Strategien. Letztlich ist es ja auch nicht eigentlich die Idee der Ambiguität, auch wenn über einzelne Bilddeutungen noch heute unvermindert gestritten wird. Es ist doch vielmehr die Tatsache, dass der Maler selbst mit der Spannung zwischen Evidenz und «obscuritas» spielt – der Zweifel, die Fragen an das Bild, das auf den ersten Blick physische Nähe und direkte Lesbarkeit suggeriert, stellen sich erst nach genauerem Hinsehen ein. Es ist diese Produktion von Irritation, die den Betrachter hinter der Epidermis perfekt gemalter Oberflächen auf die Scheinhaftigkeit des Bildes und die Welt der Täuschung verweist, und es ist sicher auch diese Irritation, die Caravaggio noch heute so aktuell und die fortdauernde Auseinandersetzung mit seinem Werk so zwingend macht.
Sybille Ebert-Schifferer: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Beck-Verlag, München. 319 S. Sebastian Schütze: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen-Verlag, Köln. 306 S. Valeska von Rosen: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600. Akademie-Verlag, Berlin. 326 S.
Quelle: Neue Zürcher Zeitung- 25. September 2010